Perfektionismus – ein Frauenleiden

Krankheiten, die unter der Diagnose „Frauenleiden“ zusammengefasst werden, sind im Allgemeinen schmerzhaft, irgendwie versteckt, unschön und – wenn sie körperlich sind – natürlicher Natur. Frauenleiden befallen Frauen. Sie ergreifen von ihnen Besitz. Und lassen sie ermattet in den Kissen zurück. Perfektionismus aber drückt uns nicht in die Polsterecke, er treibt uns zu Höchstleistungen an. Er sorgt dafür, dass wir morgens um sechs um die Alster joggen, sieben Mal die Präsentation auf Rechtschreibfehler checken und zum achten Mal nachfragen, ob das enge rote Kleid an uns auch wirklich so gut aussieht, wie es sein sollte.

Was „sein sollte“, also perfekt ist, scheint uns schon vorgegeben und liegt oft außerhalb unserer eigenen Bewertungsmaßstäbe. „Der Zeitgeist und die Gesellschaft suggeriert uns, wir müssten in allem perfekt sein“, fasst die Philosophin Dr. Rebekka Reinhard zusammen. Einfach, weil es möglich ist, weil heute jede scheinbar alles erreichen kann, werden wir zu Sklavinnen unseres Anspruchsdenkens. Wir wollen perfekt alle Rollen ausfüllen, die das Leben uns bietet: Mutter, Geliebte, Web-Königin, …. „Wir selbst sind eigentlich unsere größten Feindinnen“, erklärt Reinhard. „Wir setzen uns selbst unter Druck und machen unser Leben zu einem Zustand der ewigen Vorläufigkeit.“ Die Denkstruktur folgt der Logik: Wenn erst alles perfekt ist (der perfekte Mann, der richtige Job, Traumfigur), dann werde ich glücklich sein. Aber solange man so strebt, fliegt jeder Tag vorbei. So entsteht das Gefühl, etwas zu versäumen, schreibt die Doktorin in ihrem Buch „Die Sinn-Diät“.

Dr. Rebekka Reinhard über Perfektionismus und philosophische Lösungshinweise. (Foto: Sarah Pust)

Erst wenn wir es schaffen, eine Balance zwischen unseren Ansprüchen an das Leben und dem Leben selbst herzustellen, wird die quälende Perfektionismushast erträglich. Dabei wusste schon der alte Epikur (341 – 270 v. Chr.): „Das Material der Lebenskunst ist das Leben.“

Reinhard hat eine philosophische Beratungspraxis in München. Wir haben Sie beim Coaching-Vortrag im Rahmen der emotion-Reihe getroffen. Hier referierte sie zum Thema „Perfektionismus“. Die promovierte Philosophin und Psychologin berät in ihrer Praxis – und in Kliniken – Menschen, die am Sinn des Lebens zweifeln, auf dem Sterbebett liegen, deprimiert oder einfach auf der Suche nach mehr sind. Reinhards Lösungsansatz: Philosophie. Die Welt aus einer ganz anderen Perspektive betrachten und die großen Zusammenhänge begreifen, wie sie es auch in ihrem aktuellen Buch „Odysseus oder die Kunst des Irrens“ zeigt.

Oft ist diese Weltsicht die Weisheit alter griechischer Männer, die sich vor Hunderten von Jahren „im Leben übten“: Philosophen. Dr. Reinhards Medikamente heißen „Sokrates“, „Askese“ und „Sterbemeditation“.

Dass Askese aber philosophisch rein gar nichts mit einer Reduktionsdiät oder japsenden Marathonläufern zu tun hat, ist im heutigen Sprachgebrauch verschüttet worden. Die stoische Askese (Teil der so genannten philosophischen Lebenskunst) besteht aus folgenden Übungen, die regelmäßig ein Leben lang praktiziert werden sollten: 1) sich selbst prüfen, zum Beispiel durch eine Sterbemeditation, 2) Schreiben und Lesen, 3) mit Freunden Vorträgen lauschen und danach schweigend das Gehörte bei einem Mahl verdauen und 4) Gymnastik (kein perfektionistisch betriebenes Workout!) gehören täglich dazu. Frau Reinhard empfiehlt die Askese als Weg zum Glück – jahrhundertelang philosophisch erprobt und für gut befunden.

Jede reinrassige Perfektionistin würde sich diesen Rat jetzt sicher sehr zu Herzen nehmen und ab morgen umsetzen: „Und alle so: Yeah, Askese!“ Aber was, bitteschön, ist denn jetzt an diesem perfektionistischem Handeln, so typisch Frau?

Im Vorfeld dieses Vortrags haben wir euch hier im Digital Media Women Blog gefragt, was euch an dem Thema interessiert.

Was würdest DU fragen? Carolin und Agniezska haben die Chance genutzt - hier im Blog.

Agniezska fragte: „Wie viel Prozent der Zielerreichung ist gut genug? Auch im Vergleich mit Männern?“ Rebekka Reinhard antwortet: „Frauen und Männer tendieren beide dazu, sich mit anderen zu vergleichen. Laut Kierkegaard, dem berühmten dänischen Philosophen, ist der Vergleich aber das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. Und bei Frauen fallen Vergleiche oft heftiger und destruktiver aus. Frauen möchten nicht nur genauso gut sein, wie die andere, sondern wollen sie auch noch toppen. Das führt schnell zur Überforderung und überhöhten Ansprüchen. Perfekt sein ist nie genug, es gibt immer noch ein mehr an Perfektionismus. Stattdessen sollte man sich die eigene Einzigartigkeit und die eigenen Fähigkeiten bewusst machen. Ich muss mir selbst eine Grenze setzen und mir überlegen, was ‚genug‘ ist, wie ich wieder ein Gespür für das ‚rechte Maß‘ bekomme.“

Carolin wollte wissen: „Was bedeutet die Perfektionsfalle im Zusammenhang mit technischen Herausforderungen?“ Rebekka Reinhard antwortet: „Wenn Sie sich gezwungen fühlen, Ihre Aufmerksamkeit auf mehreren Ebenen zu teilen, dann kreieren Sie eine eigene Internet-Übung! Der stoischen Philosoph Epiktet sagt: ‚Nicht die Dinge beunruhigen den Menschen, sondern seine Meinung über die Dinge.‘ Im Fall des Internet ist also nicht die Technik, die grenzenlose Information ermöglicht, das Problem, sondern unsere Meinung, wir müssten auch tatsächlich alles mitbekommen. Das Ziel sollte sein, nicht unfrei zu werden, sondern immer Herrin meiner Selbst zu sein. Ganz praktisch bedeutet das: Widmen Sie sich Ihren Tweets, Posts und Blogartikeln, als wollten Sie ein Kunstwerk erschaffen. So wird auch das Handeln im Internet zu einer Meditationsübung – und Sie als Userin ruhig, kontrolliert und ausgeglichen!“

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