Sieht so Gleichberechtigung im Internet aus?

Das ist unsere schöne, neue Welt im Web 2.0: Medienwissenschaftlerin Anita Sarkeesian startet eine Aktion auf Kickstarter.com, mit der sie eine Videoreihe finanzieren möchte, in der es um die Rolle von Frauen in Videospielen geht. Um Recherche und Produktion zu sichern, will sie 6.000 US-Dollar sammeln und hat auch ein Video zu ihrem Spendenaufruf erstellt.

Soweit könnte alles ja ganz toll sein, doch schon nach kurzer Zeit geht es los: Der Klischee-Typ „Nerd, männlich, verlässt das Haus möglichst nie und sieht Frauen nur am Bildschirm“ fühlt sich scheinbar durch die geplante Kampagne so bedroht, dass der auf YouTube gewohnte, üble Missbrauch der Kommentarfunktion hier extrem ausartet. Der unflätige Ton in den Video-Kommentaren erinnert an (prä-)pubertierende Teenager; strotzt nicht nur vor furchtbar schlechten Witzen zum Thema „geh lieber an den Herd zurück“, sondern auch Beleidigungen und Schlimmeres. Vor allem aber strotzt er vor Sexismus, Rassismus und Drohungen, wobei die Bandbreite von Vergewaltigung bis zu Todesdrohungen geht.

Auch beschränken sich die Kommentare schnell nicht mehr nur auf YouTube. Per Twitter und Facebook sowie E-Mail wird die Medienwissenschaftlerin ebenfalls drangsaliert, vom Kickstarter-Projekt ganz zu schweigen. Weiterhin wird auch der Artikel der englischsprachigen Wikipedia über sie schnell von Vandalen umgebaut, die Kreativität der Beleidigungen und Verleumdungen ist aber nach wie vor nicht viel höher als auf dem Niveau von Teenagern. Ihr Porträtfoto wird ausgetauscht durch – nun, vielleicht könnt ihr es euch dank der Verpixelungen im Screenshot unten selbst denken. Ihr Bachelor in Kommunikationswissenschaften wird zum Bachelor in BDSM (wer nicht weiß, wofür diese Abkürzung steht, mag es vielleicht auch gar nicht wissen?) und ähnliche „Scherze“.

Ausführlichere Informationen gibt es auch auf Englisch unter anderem bei „New Statesman“, und wer sich ein eigenes Bild vom Ausmaß machen oder gucken möchte, ob es sich „lediglich um ein paar blöde Witze handelt“, kann sich die von Sarkeesian gesammelten Kommentare als Screenshot oder den folgenden Screenshot vom (mittlerweile glücklicherweise verbesserten) Wikipedia-Artikel ansehen.

Wikipedia Vandalism

Ganz ehrlich: Das regt mich enorm auf. Die üblen Reaktionen in dieser Menge, die über einen Shitstorm auf Facebook weit hinaus gehen, sind Angriffe gegen eine Person, die einfach nur über Missstände unserer Gesellschaft recherchieren und dies veröffentlichen will. Es ist noch nicht mal eine Petition geplant (wobei das keineswegs heißen sollte, dass ich es dann weniger schlimm finden würde), sie bringt keine Katzenbabies um und hat auch nicht den Regenwald abgeholzt oder plant auch nicht irgendjemandem ihre neuste Variante der Bibel aufzudrängen – diese Frau will einfach nur einen meines Erachtens gar nicht unwichtigen Beitrag zur Schärfung unseres Blickes für den bestehenden Alltagssexismus bringen. Wenn in Ägypten Blogger zum Schweigen gebracht werden sollen regen sich viele zu Recht über das Zensur-Regime auf, wenn jemand die Rolle der Frau in Videospielen betrachten will kommt dagegen ein Teil deren Nutzerschaft und will sie zum Schweigen bringen. „Schäm dich, Internet!“ – vor allem jener Teil, der hier beteiligt war. Ist das, was unter Gleichberechtigung im 21. Jahrhungert im Internet verstanden wird?!

Das einzig Positive, das man an diesem Fall sehen kann: „Any PR is good PR“ bewahrheitet sich mal wieder. Die angestrebten 6.000 US-Dollar sind längst drin, Sarkeesian kann mittlerweile über mehr als 150.000 US-Dollar (in Worten: einhundertfünfzigtausend) verfügen. Außerdem lässt sie sich von all den Hassreden nicht abschrecken und reagiert souverän: Kein stillschweigendes Ertragen, sondern die aktive Klarstellung, dass diese Einschüchterungsversuche keineswegs okay sind und (auch auf YouTube) nichts mehr mit typischem aber weitestgehend harmlosem Troll-Verhalten zu tun haben.

Ähnliche Beiträge

Interview

Vielfalt, Innovation und Verantwortung: Wie das Filmfest Hamburg und die Explorer Konferenz neue Maßstäbe setzen – Malika Rabahallah und Linda Dudacy im Interview

Malika Rabahallah und Linda Dudacy prägen das diesjährige FILMFEST HAMBURG und die Explorer Konferenz mit frischen Perspektiven und innovativen Ansätzen. Im Interview sprechen sie über ihre Zusammenarbeit, die Herausforderungen und Chancen der Filmbranche und darüber, wie wichtig es ist, diverse Stimmen zu fördern und nachhaltige Strukturen zu schaffen.

Weiterlesen »
München

Die #DMWMuc im Metaverse oder: Warst du schon mal auf dem Mount Everest?

Es war wieder soweit: Die #re:publica hatte ihre Tore geöffnet und all jene eingeladen, die die Zukunft aktiv mitgestalten wollen oder sich über aktuelle Entwicklungen informieren möchten. Die Veranstaltung ist eine vielfältige Mischung aus Medien, Journalismus, Politik, Bildung und kreativen Technologien. Hier trifft sich, wer etwas zu sagen hat und die Welt von morgen mitkreiert. 

Weiterlesen »