Es ist ja kein Geheimnis, dass bestimmte Branchen – darunter auch die IT, in der viele von uns arbeiten – einen Frauenmangel beklagen und seit Jahren mit Initiativen wie dem „Girls‘ Day“ zumindest versuchen, daran etwas zu ändern. Und ich befürworte jeden ernstzunehmenden Vorstoß, der verspricht, etwas zu ändern, und der auf halbwegs sinnigen Marktuntersuchungen zu basieren scheint. Aber würde ich als Mädchen sehen, was die Europäische Kommission – obendrein mit öffentlichen Geldern! – in dieser Woche gestartet hat, würde ich die Beine in die Hand nehmen und mich schleunigst für einen anderen Beruf entscheiden.
Die Kampagne „Science: It’s a girl thing“/“Wissenschaft ist Mädchensache“ soll zum Ziel haben, dem weiblichen Geschlecht zu zeigen, dass Wissenschaft und Forschung zukunftsträchtige Bereiche und total spannend sind. „wir wollen mit Klischees aufräumen und Frauen und Mädchen (…) zeigen, dass Wissenschaft mehr zu bieten hat als alte Männer in weißen Kitteln“, wird Máire Geoghegan-Quinn, EU-Kommissarin für Wissenschaft und Forschung, zitiert.
Und wie macht sie das? Klar, indem sie jede Menge andere Klischees bemüht!
(via Sam)
Ich stelle mir das Brainstorming bei der Entwicklung dieses Clips ungefähr so vor:
- Was mögen Mädchen heute?
- Hello Kitty? Ja, okay, die sind pink, oder? Machen wir!
- Was assoziiert ihr sonst mit jungen Mädchen?
- Ja, Hannah Montana, Lady Gaga, sehr gut! Vielleicht eine Mischung?
- Wie befreien wir uns vom Klischee des Wissenschaftlers?
- Ja, ein Calvin-Klein-Model im weißen Kittel, klasse!
- Und die Mädchen bitte recht sexy, weil Wissenschaft soll ihnen ja soooo sexy vorkommen!
- Wir brauchen noch ein Logo. Jemand Ideen?
- Ein Lippenstift? Klar, es ist ja schließlich auch Wissenschaftlern zu verdanken, dass es Lippenstift überhaupt gibt. Super Vorschlag, so machen wir’s!
Herausgekommen ist eine Mischung aus H&M-Plakaten, „Drei Engel für Charlie“ (die neue, supersexy, schnell wieder abgesetzte Variante) und total coolem Labor-Experiment. Ein Mann im weißen Kittel, der aussieht wie aus der Fielmann-Werbung, aber wohl den stereotypen Wissenschaftler darstellen soll, bekommt Besuch von drei kichernden Frauen, die ihre Sonnenbrille gegen Schutzbrille eintauschen und – ja, was eigentlich?
Vielleicht entgeht mir die Ironie des Spots und die EU-Kommission hat extra einen MTV-Regisseur engagiert, um was total Hippes zu machen. Womöglich steckt dahinter die Idee, dass nur kluge Mädchen diesen Spaß verstehen und man ja nur diese klugen Mädchen will man schließlich in der Wissenschaft sehen.
Liebe EU-Market-Researcher, selbst eine Fünfjährige erkennt die Stereotypen, mit denen uns die Gesellschaft in bestimmte Schubladen steckt. Aber ihr habt augenscheinlich genau die Studien gefunden, die der Meinung sind, Mädchen oder – den Darstellerinnen des Clips folgend – junge Frauen stehen auf Rosa und Pink, Nagellack und Lippenstift in diesen Farben.
Update
26. Juni. Das Video, das ihr oben seht, ist inzwischen nur noch auf den Kanälen von Leuten abzurufen, die es früh genug kopiert hatten, denn die Verantwortlichen haben nach massiver Kritik aus der Wissenschaft, anderen Branchen und von Frauen wie Männern inzwischen ihr eigenes Video auf „privat“ gestellt. Auf Twitter versucht die EU-Kommission sich nun in gesitteterem Ton potenziellen Wissenschaftlerinnen anzunähern:
OK scientists, we’ve heard you and we want to keep hearing you: Help us build a list of #realwomeninscience: twitter.com/#!/EU_Commissi…
— European Commission(@EU_Commission) Juni 22, 2012
Die Twitter-Liste zählt inzwischen 500 twitternde Wissenschaftlerin aus aller Welt.