Carme Prats hat einen ungewöhnlichen Jobtitel: Sie ist Principal Simplification Manager bei der Telefónica Deutschland. Für sie ist Simplifizierung der Schlüssel zu einem erfolgreichen digitalen Wandel in einer Organisation. Carme Prats versucht in dem Telekommunikationsunternehmen vorhandene Strukturen und Prozesse im Rahmen der Digitalisierung zu vereinfachen, ganz zu streichen oder neu aufzusetzen. Ihr Chef Thorsten Dirks, u.a. Präsident des Digitalverbands Bitkom, hat den digitalen Wandel verstanden und unterstützt ihre Projekte. Und doch hinterlässt ihr der scheidende CEO mit seinem inzwischen berühmten Gipfel-Statement kein leichtes Erbe: „Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalisierten Prozess“, sagte Dirks vor einem Jahr auf einer Veranstaltung der SZ.
„Ich muss mich jetzt schon öfter fragen lassen, warum dieser und jener Prozess digitalisiert werden soll“, schmunzelt Carme Prats.
Beim Themenabend „Digitale Transformation“, dem vierten und letzten in der Reihe, den die #DMW München in diesem Jahr zum digitalen Wandel unter dem Stichwort #nahdran organisiert haben, gab es für die mehr als 70 Gäste erneut sehr spannenden Input. Aus meiner Sicht war es ein mehr als gelungener Abschluss mit vielen wertvollen und konkreten Informationen. Keine blanke Theorie, sondern Erfahrungen aus der Praxis. Im Münchner Office der Digitalagentur Valtech diskutierten die vier Referentinnen Stefanie Dörflinger, Tina Burkhardt, Carme Prats und Andrea Hirzle-Yager. Die richtigen Fragen stellte unsere Münchner #DMW Katja Vater als Moderatorin.
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„es geht darum, einen ganz grundsätzlichen Wandel in der Unternehmenskultur zu schaffen“
Carme Prats zeigte, wie sie bei der Telefónica Germany die Mitarbeiter in den Digitalisierungsprozess einbindet. Aber Halt, ist das Telco-Geschäft nicht schon längst digital? Ja, sagt Prats. „Aber nun versuchen viele Angreifer mit unserer Infrastruktur Geld zu machen.“ Um zu erreichen, dass Prozesse vereinfacht werden und neue Geschäftsmodelle entstehen können, hat Prats mit ihrem Team viele Maßnahmen entwickelt, um die Mitarbeiter zum „Silojumping“ zu bewegen. So werden die Beschäftigten beispielsweise ermutigt, Lösungen für bestehende Probleme einzufordern und selbst zu entwickeln. Alte Zöpfe, sprich unnötige Prozesse, werden infrage gestellt und gegebenenfalls sogar gestoppt. Wer sich unsicher mit neuen Begriffen, Prozessen oder Tools fühlt, kann im Intranet anonym Fragen stellen und erhält Antworten aus dem Kollegenkreis. So identifiziert das Unternehmen auch neue Experten. „Digitale Prozesse und Produkte gelingen nur, wenn wir die Brille der Kunden aufsetzen. Nur dann überwinden wir die Abteilungssilos, die als Komplexitätstreiber dienen. Simplifizierung ist der Klebstoff der Digitalisierung“, ist Prats überzeugt.
Sich aus der eigenen Komfortzone zu bewegen, über den Tellerrand zu schauen, das klingt leichter, als es ist – und das gilt für alle Beteiligten. Denn auch die Entscheidungen von Carme Prats werden nun häufiger hinterfragt als früher. „Führung funktioniert heute anders“, resümiert sie. „Daten und Demokratisierung von Wissen verändert Rollen – der Jobtitel sagt wenig aus, die Rolle wird wichtiger – ebenso der Name, statt der Abteilung.“
In einem waren sich alle Referentinnen des Abends einig: Es geht darum, die Mitarbeiter einzubinden und einen ganz grundsätzlichen Wandel in der Unternehmenskultur zu schaffen.
„Es ist immer wieder wichtig zu informieren und die Erwartungshaltung aller zu steuern“
Daran arbeitet auch der Versicherungskonzern Allianz, wo Andrea Hirzle-Yager als Abteilungsdirektorin unter anderem den Betrieb der ePortale sowie den Aufbau der „agile delivery“ Plattform für neu-gestaltete Apps verantwortet. Sie hält vor allem eine neue Fehlerkultur für notwendig, um die Herausforderungen der digitalen Transformation erfolgreich meistern zu können. Andrea Hirzle-Yager arbeitet für den Konzern daran, einen Mindset-Shift in den obersten Führungsebenen und bei den Mitarbeitern zu schaffen. Pilotumgebungen und Apps sollen den digitalen Wandel greifbar machen.
Kommunikation steht dabei für sie an erster Stelle. „Es ist immer wieder wichtig zu informieren und die Erwartungshaltung aller zu steuern.“ Mit Trainings, Lunch & Learn-Angeboten oder Websessions sollen die Beschäftigten, die zum größten Teil noch nie bei einem anderen Arbeitgeber tätig waren, mit ins Boot geholt werden. Die Aktivitäten der Fintechs, die das Geschäftsmodell der klassisch aufgestellten Banken und Versicherungen disruptieren, sieht Hirzle-Yager dabei sogar positiv und als Ansporn. „Es ist gut, dass es sie gibt“, sagt die Abteilungsdirektorin, die die aktuellen Herausforderungen gern annimmt. „Es ist eine spannende Zeit, die unglaublichen Spaß macht.“
„Digitalisierung ist ein gutes Feld für Frauen“
Genau diesen positiven Spirit brachte auch Tina Burkhardt mit. Sie berichtete ein Jahr nach der Gründung der Shiftschool, Deutschlands erster Akademie für digitale Transformation, von ihren Erfahrungen. Die Akademie bietet in Nürnberg ein berufsbegleitendes Weiterbildungsprogramm zum „Digital Transformation Manager“. In acht Modulen lernen die Teilnehmer hier, was zu einem erfolgreichen Change-Prozess im digitalen Wandel gehört. Zu den Schülern der Shiftschool gehören Führungskräfte ebenso wie Junior-Mitarbeiter. „Technik erleichtert den Wandel, aber es geht immer zuerst um den Menschen“, fasst es Tina Burkhardt zusammen, die die Shiftschool gemeinsam mit ihrem Mann aufgebaut hat.
Sie vergleicht die Digitale Transformation mit „Teenage Sex“ – jeder habe schon mal davon gehört, aber niemand hat es wirklich schon erfolgreich ausprobiert. Genau da setzt die Shiftschool an. „Wir sind nicht die Zettelkleber vom Dienst“, sagt Tina Burkhardt mit Blick auf neue Arbeitsweisen wie Design Thinking, die immer häufiger in Unternehmen eingesetzt werden. Neue Methoden zu lernen und Tools zu kennen nützen nichts, wenn das Mindset nicht dazu passt und nicht verstanden wird, warum der Wandel nötig ist. Diese Haltung zu entwickeln sei ein langfristiger Prozess, weiß Burkhardt, die auch schon Bewerber abgelehnt hat, wenn diese nur auf Druck der Vorgesetzten zur Weiterbildung kamen, aber keine Bereitschaft für den Wandel zeigten. „Digitalisierung ist ein gutes Feld für Frauen“, ermutigte die Expertin das Publikum. „Frauen gehen meist flexibler mit neuen Herausforderungen um und sind häufig schneller dabei, wenn es um Veränderungen geht.“
„Die Realität des digitalen Zeitalters ist viel komplexer als Design Thinking oder Social Media“
Aus der Sicht von Stefanie Dörflinger, CEO des Beratungsunternehmens fink different, „kann der digitale Wandel in Unternehmen nicht nur auf den Schultern einer einzigen Online-Marketing-Managerin vorangetrieben werden, auf der die ganze Hoffnung ruht. Das ist zum Scheitern verurteilt. Digitaler Wandel greift stark in die Unternehmenskultur ein und ist eine gesamtunternehmerische Aufgabe“, sagt Dörflinger.
„In der letzten Zeit treffen wir in unserer täglichen Arbeit immer öfter auf Unternehmen, die sich von der Digitalen Transformation stark verunsichert zeigen. Manche von ihnen sind wie das Kaninchen vor der Schlange regelrecht paralysiert; andere spüren bereits erste Schmerzen. Beispielsweise, weil sie gerade moderne Methoden wie Design Thinking oder den Nutzen von Facebook und Twitter mit einer falschen Erwartungshaltung eingeführt haben und sich sicher waren: Damit werden wir „digital fit“.“ Solche Beispiele zeigen nach Meinung von Dörflinger, dass viele Unternehmen das Wesen des Digitalen Wandels nicht verstanden haben. „Die Realität des digitalen Zeitalters ist viel komplexer als Design Thinking oder Social Media.“
Zehn Thesen zur Digitalen Transformation
Stefanie Dörflinger stellte beim #DMW-Themenabend ihre zehn Thesen zur Digitalen Transformation vor:
1. Digitale Transformation ist kultureller Wandel
DT bedeutet nicht, lediglich eine Methodik („Wir sind nach zwei Tagen Schulung alle total agil mit Design Thinking) beziehungsweise ein neues Tool einzuführen (yeah, wie haben jetzt ein Intranet!) oder neue Kanäle zu nutzen („Willst du unser Fan auf Facebook werden?!“). Digitaler Wandel bedeutet primär eine Änderung des Mindsets. Und zwar des Mindsets eines GANZEN UNTERNEHMENS. Ein sehr vielschichtiges Thema, zu dem ich gerne ein paar Stichworte als food for thoughts gebe:
Schnellere, flexiblere Entscheidungsfindung; dezentralere Strukturen (Schwarmorganisation); Fehlerkultur (Lernen durch try & error).
2. Digitaler Wandel muss Prio 1 in Unternehmen bekommen
…und kann nicht als Nebenbei-Projekt des Online Marketing Managers funktionieren, auf dessen oder deren Schultern die ganze Hoffnung ruht. Was logisch erscheint, wird in der Realität dennoch oft erträumt: 1 einzige Person kann innerhalb einer größeren Organisation unmöglich einen solch fundamentalen Wandel schaffen, wie die digitale Transformation. Tatsächlich erleben wir oft: Visionärer Unternehmer stellt junge Online Marketing Managerin ein (bevorzugt weiblich), die das Unternehmen nun „modern machen“ soll. Es gibt genau zwei mögliche Ausgangsszenarien in dieser Situation: Szenario 1: Besagte Person passt sich an vorhandene Denkmuster an und geht unter oder, Szenario 2: Sie oder er kündigt nach kurzer Zeit und zieht weiter.
3. Digitaler Wandel fordert die Unternehmen, an ihrer Vision, an Ihrem Grundverständnis zu arbeiten
Wie können wir mit unseren Produkten die Bedürfnisse einer digitalen Welt bedienen und ihre Möglichkeiten nutzen? Das ist DIE zentrale Frage, mit der Unternehmen starten sollten. Eine neue coole Website zu erstellen und sie mit Social Media zu vernetzen steht nicht am Beginn des Digitalen Wandels. Sie ist ein Resultat.
4. Viele Unternehmen werden den Sprung nur schaffen, wenn sie sich externe Störfaktoren, Querdenker und Innovatoren ins Haus holen
Mit Denkmustern, die sich über Jahre und Jahrzehnte gebildet haben, ist der Digitale Wandel nicht nur eine große Herausforderung. Er ist schlicht nicht möglich. Wohl geglaubte Vorteile – wie beispielsweise eine Belegschafts-Fluktuation unter 3 Prozent – werden so auf einmal zum Problem und Innovationskiller Nummer 1.
5. Digitaler Wandel muss vom Chef vorangetrieben werden
Digitaler Wandel muss Chefsache sein. Da gibt es kein Wenn und Aber. Der digitale Wandel greift tief in das komplette Geschäftsmodell ein und betrifft nicht etwa nur Online Marketing. Die Ausrichtung des Produkt- und Serviceangebots auf die Bedürfnisse einer digitalen Welt stehen an erster Stelle. DT muss aus diesem Grund die Zielsetzung Prio 1 genießen.
6 Digitaler Wandel kann nicht nur vom Chef getrieben werden
Viele Geschäftsführer wollen beispielsweise nach der Geschäftsübernahme von seinem Vorgänger sehr schnell sehr digital werden. Quasi über Nacht. Und dabei viel zu schnell war für sein Unternehmen und Mitarbeiter. Ein solch fundamentaler Wandel von Denkmustern – und der ist nun mal Grundvoraussetzung für den Digitalen Wandel– funktioniert nicht ohne ein Team, das mitzieht. Digital-Navigatoren aus jedem Geschäftsbereich, die Spaß an dem Thema haben, die ein bereichsübergreifendes Team bilden und die den digitalen Wandel gemeinsam vorantreiben. So kann „der Change“ gelingen. Selbst eine visionärere Chefin braucht ein kompetentes internes Netzwerk, das es versteht „zu pushen“.
7. Digitaler Wandel erzwingt kulturelles Umdenken in Unternehmen
Digitaler Wandel macht vielen Angst. Wie es tiefgreifende Veränderung ganz natürlicherweise bei Menschen tut. Vor allem, wenn man als Individuum noch nicht weiß, wo das alles hinführt. Aus diesem Grund sollten Unternehmen im Rahmen der DT bei der Geschäftsvision anzufangen und Mitarbeitern und Führungskräften somit ein Big Picture zu bieten, an dem sie sich orientieren können, rät Stefanie Dörflinger. Am Anfang von Prozessen steht oft eine mehr oder minder starke Ablehnung bei verschiedenen Playern innerhalb eines Unternehmens, die sich dann schrittweise auflöst. Denkmuster der Menschen ändern sich langsam, bis sie die Veränderungen durch den Digitalen Wandel nicht mehr als bedrohlich wahrnehmen.
8. Digitaler Wandel braucht Zeit und ist kein schnell-rentables Geschäft.
Wann erreichen wir den Break-Even?
Das sollte nicht die Frage Nummer eins sein. Das Potenzial der DT für sich zu erschließen, Mut für neue Denkweisen aufzubringen, Mitarbeiter und Führungskräfte schulen – all das braucht Zeit. Deswegen ist es ratsam schnell anzufangen, Fehler und Schlaufen einzukalkulieren und daraus zu lernen.
9. Digitaler Wandel beschleunigt das Kommunikationsverhalten
… was momentan noch viele Menschen überfordert. Durch Social Media Kanäle aber auch durch verändertes Informationsverhalten der Menschen generell sind Unternehmen und ihre Mitarbeiter viel stärker gefordert, schnell und persönlich zu reagieren.
10. Digitaler Wandel ändert das Anforderungsprofil von Mitarbeitern und Führungskräften
Mittlerweile werden Eigenschaften bei Mitarbeitern und Führungskräftig wichtig, die Personaldienstleister noch vor Jahren dazu verführt hätten, einen Kandidaten aus der Kartei zu werfen. Als Schmankerl zum Schluss ein kleiner Auszug aus dem Anforderungsprofil der Zukunft:
Mut haben Neues auszuprobieren – und zwar immer wieder (Fehlerkultur!), die zugewiesenen Freiräume gerne nutzen und aktiv gestalten und sehr wichtig: gerne in dezentral und sich wechselnden Umgebungen arbeiten.
„In einigen Jahren wird Schwarmorganisation meiner festen Überzeugung nach fester Teil der Arbeitsrealität sein. Und das wird eine schnelle Entwicklung sein“, ist Stefanie Dörflinger überzeugt.
FAZIT:
Mit der Themenreihe #nahdran am Digitalen Wandel haben die Münchner #DMW offensichtlich einen Nerv getroffen. Die digitale Transformation ist inzwischen in allen Branchen angekommen. Und genau weil es in dieser (R-)evolution keine Blaupausen gibt, sind Erfahrungen aus der Praxis so wertvoll – als Inspiration und auch für das eigene Vorankommen. Kein Wunder, dass die Tickets immer so schnell ausverkauft waren. All die positiven Kommentare beim anschließenden Networking und in den sozialen Netzwerken ermuntern uns, genau dort 2017 weiter zu machen. Lasst Euch überraschen.
Der Abend in Bildern
Mit herzlichem Dank an unsere #DMWmuc-Quartiersleiterin und Fotografin Simone Naumann!