#DMWKaffee mit Mareice Kaiser, Journalistin und Buchautorin

Mareice Kaiser im Interview. Bild: Gabriele Monjau
Mareice Kaiser im Interview. Bild: Gabriele Monjau

In der Reihe „Ein #DMWKaffee mit…“ gehen Autorinnen dieses Blogs mit inspirierenden Frauen aus der Digitalbranche einen Kaffee trinken.

Dieses Mal hat sich die Kölner #DMW und Finanzvorstand Ute Blindert mit Mareice Kaiser, Journalistin und Bloggerin des „Kaiserinnenreichs“, auf einen #DMWKaffee (ehrlich gesagt: es war Weißwein) nach Mareices Lesung ihres Buchs „Alles inklusive. Vom Alltag mit meiner behinderten Tochter“ (S. Fischer, 2016) getroffen. Ein Gespräch über Familie, Inklusion und das Leben an sich.

Mit dem Internet und seinen Nutzern ist es ja so eine komische Sache. Viele glaubt man zu kennen und das stimmt irgendwie – auch wenn man sich noch nie begegnet ist. So ging es mir mit Mareice Kaiser. Sie berichtet in ihrem o. g. Blog über das Leben als Familie mit einem behinderten Kind. Ein wichtiges Thema, allerdings nicht unbedingt für mich, bin ich doch Mutter zweier gesunder Kinder – und somit von Mareices Alltag weit entfernt. Dachte ich.

Bis ich ihr Buch „Alles inklusive – Aus dem Alltag mit meiner behinderten Tochter“ las. In einer Nachtschicht, wohlgemerkt, so flüssig und prägnant ist es geschrieben.

Mareice, in deinem Buch „Alles inklusive“ lässt du mich an deinem Familienleben mit Greta, deiner schwer behinderten Tochter, teilhaben. Wie schwer ist es dir gefallen, die Tür zu deinem Privatleben zu öffnen?

Mareice Kaiser nach ihrer Lesung in Köln. Bild: Ute Blindert
Mareice Kaiser nach ihrer Lesung in Köln. Bild: Ute Blindert

Mareice: Gar nicht schwer – wobei das natürlich ein sehr sensibles Thema ist. Ganz am Anfang stand die Abstimmung mit dem Vater meiner Kinder, über das was wir wichtig für den öffentlichen Diskurs finden und was bei uns bleibt. Wir waren uns dabei in den wichtigsten Punkten einig: Keine erkennbaren Fotos unserer Kinder, keine Klarnamen. Und dann gibt es da auch einfach meinen Bauch, der mir immer ziemlich verlässlich gesagt hat, was ins Internet oder ins Buch gehört – und was nur für uns als Familie bestimmt ist. Mir ging es immer darum, Menschen mit meiner Nachricht zu erreichen, niemals einfach nur um ein Plaudern über familiäre Befindlichkeiten.

 

Beim Lesen von Mareices Buch wurde mir klar, dass ihr Alltag auf der einen Seite gar nicht so weit von meinem als berufstätige Mutter entfernt ist und gleichzeitig Welten zwischen uns liegen. Schließlich muss ich mich nur zwischen Kindern, Partner, Job, Hobby aufteilen und nicht noch einen zusätzlichen Halbtagsjob mit Anträgen, Schriftverkehr, Telefonaten mit Krankenkassen, Behörden, Pflegestellen etc. erfüllen, zusätzlich zu der Arbeit, die das Leben mit einem Kind mit sich bringt, das im „Chromosomenlotto“ gewonnen hat.

Du schreibst vom Hauptgewinn im Chromosomenlotto. Was bedeutete das konkret im Alltag und an besonderen Tagen mit Greta?

Mareice: Mein „Jackpot“ im Chromosomenlotto ist augenzwinkernd gemeint und hat unterschiedliche Dimensionen. Erstmal ist es einfach total unwahrscheinlich, ein Kind wie Greta zu bekommen. Sie hatte eine extrem seltene Chromosomenauffälligkeit, vermutlich einzigartig auf der Welt. Als ich mal vor einer Schulklasse angehender Erzieher*innen eine Lesung hielt, meinte eine Schülerin ganz unbedarft: „Das ist ja wie ein Jackpot!“ Und ich fand das süß und treffend. Außerdem erinnert mich das Wort an einen meiner Lieblingssongs: „Jackpot“ von Tocotronic, in dem es heißt „Du bist der Jackpot meines Lebens / zugegeben / eher schief als eben / Und wenn du lachst / gehen drei Sonnen auf“. Das passt alles ziemlich gut zu meiner Tochter und mir.

Im Alltag bedeutete dieser Jackpot, dass bei uns alles, was andere Familien so erleben, zugespitzt war. Einen Kitaplatz für Greta mussten wir hart erkämpfen, ebenso einen Pflegedienst, der Greta nachts betreuen konnte. Greta braucht bei alltäglichen Dingen wie Essen und Fortbewegung Unterstützung. Sie hat vor allem taktil kommuniziert und hatte ein schwächeres Immunsystem als gleichaltrige Kinder, so dass wir viel zu viele Tage, Wochen und Monate in gelb gestrichenen Krankenhauszimmern verbringen mussten.

 

Mareices Buch endet unendlich traurig mit einem kurzen Absatz über Gretas Tod im Alter von vier Jahren. Im Internet nahmen unzählige Menschen Anteil und bekundeten ihre Trauer. Behinderung und Tod sind wie Gespenster in unserem Leben. Wir wissen, dass sie da sind, sehen sie aber nicht. Nur zu unserer ganz persönlichen Geisterstunde kommen sie bei uns vorbei. Mareice hat dazu ein wunderbares Kapitel in ihrem Buch geschrieben, nachzulesen auch hier in ihrem Blog.

Wie kommt es eigentlich, dass wir Behinderung und Tod so aus unserem Leben verbannen? Du hältst es für wichtig, anders, offener damit umzugehen. Wäre dir das vor Greta auch schon wichtig gewesen bzw. hast dir darüber überhaupt Gedanken gemacht?

Mareice: Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der es darum geht, immer besser, schöner, schneller zu sein und zu werden. Behinderungen, Krankheit und Tod werden ausgeblendet. Es geht darum, was wir leisten können, welchen Beitrag wir zum Bruttosozialprodukt leisten, was wir erreichen können. Ein Kind, das niemals sprechen und laufen wird, hält einem dann einen ziemlich scharfen Spiegel vors Gesicht. Sind das wirklich die Lebensziele?

Und ja, solche Gedanken hatte ich bereits vor der Geburt meiner behinderten Tochter – aber ganz sicher nicht in der Ausprägung wie heute. Mir war immer klar, dass ich auch ein Kind mit Behinderung bekommen könnte. Wie das Leben eines Kindes mit Behinderung dann aussehen könnte – und wie mein Leben –, das wusste ich nicht – dass es lebenswert ist, dessen war ich mir aber immer sicher.

 

Am Ende ihres Buches entwirft Mareice eine Utopie: Wie wäre es, wenn wir Inklusion ganz anders denken würden. Es gäbe statt Verhinderern bei Krankenkassen und Behörden, Ermöglicher. Für jede Familie würde nach den Lösungen für ihre individuellen Bedürfnisse gesucht, egal ob mit oder ohne behinderte Kinder.

Die Utopie, die du am Ende deines Buches entwirfst, liest sich so schön. Denkst du, dass wir auf einem guten Weg sind?

Mareice: Danke für das Kompliment. Meine Utopie liest sich nicht nur schön, ich habe sie auch sehr schnell geschrieben. Vielleicht ist das das Kapitel, das mir am leichtesten fiel. Und das ist doch schon komisch, oder? Wenn mir das so leicht fällt, ein Konzept zu entwickeln, wie wir alle menschlicher und unbürokratischer miteinander leben könnten – warum können Politiker*innen das nicht? Schreiben und umsetzen.

Zumal Inklusion ja ein Menschenrecht ist! Es ist mir wirklich unbegreiflich, wie weit wir von der Umsetzung entfernt sind und wie viel weiter wir uns davon entfernen, zuletzt mit dem neuen Teilhabegesetz, das sehr unbefriedigend für Menschen mit Behinderung ist. Bei uns allen muss ein Umdenken stattfinden, eine Neudefinition von Werten, wie wir miteinander leben wollen. Wollen wir, dass es um wirtschaftliche Leistung geht? Oder vielleicht eher, dass unsere größten Werte Empathie und Humor sind?

Als ich Mareice endlich persönlich treffe, bin ich überrascht, wie vertraut sie mir ist. Die Lesung ist ganz wunderbar, ihrer Stimme könnte ich stundenlang zuhören. Am nächsten Tag lese ich mich in ihrem Blog fest. Unter der Rubrik Mütterfragebogen berichten Frauen über ihren Familienalltag mit ihren behinderten Kindern.

Was mich erstaunt, ist die Kraft, die aus den Berichten spricht. Ich freue mich darüber, lese mich gefesselt durch die Erzählungen. Und muss manchmal heulen wie ein Schlosshund.

Wie kamst du darauf, die Interview-Serie „Mutterfragebogen, Special Needs Edition“ zu starten?

Mareice: Ganz ehrlich? Die Idee ist geklaut! (lacht) Die tolle Okka Rohd hat eine Interview-Serie auf ihrem Blog, die ich ganz klasse fand. Irgendwann dachte ich, hey, das müsste es auch für Mütter behinderter Kinder geben, die ja nochmal ein Stück unsichtbarer sind als Mütter eh schon. Und dann habe ich Okka einfach gefragt und sie fand es toll.

Seitdem freue ich mich, in unregelmäßigen Abständen immer wieder tolle Frauen als Gäste auf meinem Blog zu haben, die aus ihrem Alltag erzählen. Für einige ist das ein großer Schritt in die Öffentlichkeit. Und ich freue mich immer, dass ich durchweg positive Rückmeldungen bekomme, wenn die Interviews dann online sind. „Das war jetzt eine richtige Befreiung“, schrieb mir mal eine der Mütter. Ich es bereitet mir sehr viel Freude, dass ich den Frauen mit meinem Blog eine Bühne bieten kann – und für mich ist das ein guter Weg, den Blog fortzuführen.

Mareice Kaiser, Jahrgang 1981, arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt u.a. für Zeit Online, die taz und das Missy Magazine, vorwiegend zu den Themen Inklusion, Chancengerechtigkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ihr Blog Kaiserinnenreich ging Ostern 2014 online, ihr erstes Buch „Alles inklusive – Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“ erschien im November 2016 im S. Fischer Verlag.

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