Kurz nach der insideAR 2013, der weltgrößten Augmented Reality (AR) Konferenz, bewegen uns immer noch die gesehenen Augmented-Reality-Anwendungen und die vielen Eindrücke aus den Vorträgen. Wir nehmen mit: AR ist eine bahnbrechende Technologie, die unser Leben in Zukunft in vielen Bereichen maßgeblich verändern, beeinflussen und wohl auch verbessern wird. Und mit dieser Technologie kann Geld verdient werden! Denn AR bietet unendliche Möglichkeiten für neues Unternehmertum.
Die insideAR unter dem Motto „Always on, always augmented“ war nicht nur für AR-Entwickler spannend, sondern auch für Unternehmer, Agenturen, Verantwortliche aus Marketing und Sales inspirierend. Mehr als 30 Redner präsentierten bereits umgesetzte und erfolgreiche AR-Anwendungen und zeigten, wie mit AR Kosten gespart, Umsätze gesteigert, Kommunikationsziele erreicht werden können. Die Zuhörer bekamen in vielen Vorträgen einen sehr guten Eindruck von den ersten AR-Erfahrungen, mit allen Fehlern und vor allem auch Erkenntnissen für neue AR-Projekte. Bei einer Technologie, die für Entwickler unerschöpfliche kreative, spielerische Möglichkeiten bietet, wird sehr gerne mal schnell am Nutzer vorbei entwickelt. Hier waren sich die AR-Fachleute einig: Entscheidend für den Erfolg jeder AR-App ist der damit vermittelte Nutzen. Nur der Holländer Sander Veenhof, der AR in seinen Kunstprojekten einsetzt, verzichtet auf Sinn und Mehrwert, sondern zeigt einfach wie viel Spaß Menschen mit der „erweiterten Realität“ auch haben können.
In der Industrie ist Mobile Augmented Reality bereits angekommen
Wenn heute von AR die Rede ist, denken die meisten wohl an die Google Glass. Diese „Datenbrille“ kann über einen eingebauten Rechner und eine ständig bestehende Internetverbindung passende Informationen ins Blickfeld einfügen. Da die Brille in Deutschland bislang kaum verfügbar ist, bildete sich im Ausstellungsbereich der insideAR schnell eine Schlange um die smarte Brille. Die Besucher konnten die Brille nicht nur aufsetzen, sondern den praktischen Einsatz zum Beispiel am Motorraum eines Autos ausprobieren. Die App des Autoherstellers zeigte, an welcher Stelle Öl nachgefüllt werden musste: Das Symbol eines Ölkannchens erschien an der passenden Stelle. Dadurch hatte man die Hände frei, während man arbeitet.
Dieses kleine Beispiel zeigt, dass mit AR Arbeitsschritte vereinfacht werden und Zeit gespart werden kann. So ist es kein Wunder, dass die Industrie AR schon längst entdeckt hat. Die „Erweiterung der sichtbaren Realität“, wie man AR ins Deutsche übersetzen könnte, blendet nützliche Informationen genau zu dem Zeitpunkt und an der Stelle ein, wo sie benötigt werden. Sie verbindet die reale Welt mit den digitalen Daten, die gerade an Ort und Stelle benötigt werden. Das sorgt für eine schnellere Orientierung und vermindert Fehlerquellen. In der Autobranche ist AR angekommen, auch wenn das VW Programm „Marta noch eine Revolution in der Wartung und Reparatur eines Autos darstellt. Prof. Dr. Schreiber von VW zeigt wie ein Automechaniker mittels „Marta“ auch bei dem wohl sehr komplexen neuen VW XL 1 Fehlerquellen entdecken und beheben können.
In der Industrie werden derzeit etliche Anwendungen untersucht und erste Lösungen entwickelt. Auch die Arbeit im Warenlager soll erleichtert werden. Bisher erhielt der Mitarbeiter eine Liste mit allen Bestellungen, um in der Halle die bestellten Waren zu suchen. Schneller geht das, wenn er über seine Datenbrille, sogenannte „Smart Glasses“, alle Informationen zur Position, dem Inhalt und dem Gewicht der Kartons beim Blick darauf im Sichtfeld hat und die Hände frei. Für diesen vielversprechenden Markt entwickeln zahlreiche Hersteller „Smart glasses“, wie zum Beispiel Vuzix, Kopin (Golden-i) und Epson.
Google Glass dominiert derzeit die Vorstellung von Smart Glasses in der breiten Öffentlichkeit: Leicht und minimalistisch im Design spricht sie Konsumenten als hippes Avantgarde-Accessoire sicher stärker an als größere, schwerere Alternativprodukte, die für den Industrieeinsatz konzipiert wurden. Die Herausforderungen in der Weiterentwicklung des am Körper tragbaren „wearable computing“ liegen derzeit in der Batterielaufzeit, Größe und Gewicht der Geräte.
AR schafft das wahre Produkterlebnis
Schon solange versuchen Marketingleute Produkte erlebbar zu machen und wahre Produkterlebnisse zu schaffen. Aufwendig produzierte Bildwelten, Animationen, Videos, ansprechende und emotionale Präsentation am POS, umfangreiche Kataloge und unzählige Printmaterialien waren meist die dazu genutzten Instrumente. Und jetzt gibt es AR. AR kann alles auf einmal und schafft es tatsächlich: das Produkterlebnis! Erstmalig kann ein Produkt wirklich in den eigenen vier Wänden erfahren werden, ohne dass es zuvor gekauft wurde. Denn die entscheidende Frage, die sich jeder Konsument irgendwann und auch sehr häufig stellt – „Passt das überhaupt zu mir?“ -, kann mit AR bereits in der Pre-Sales-Phase beantwortet werden. Das bekannteste und viel zitierte Beispiel hierfür ist die App von Ikea. Beim Durchblättern des Kataloges und damit beim ersten Interesse kann der Kunde gleich ausprobieren, ob der Sessel überhaupt im eigenen Wohnzimmer gut aussähe. Alle angebotenen Varianten in Farbe, Form und Stil können durchprobiert und vor allem auch mit der Familie, Freunden diskutiert und geteilt werden.
Der Badhersteller Villeroy & Boch nutzt die AR Technology ähnlich. Aber vorerst noch mit dem Fokus auf Händler, die mit der Villeroy & Boch App einen „erweiterten Verkaufsraum“ zu Verfügung gestellt bekommen. Weil die Händler häufig nicht jede Variante der Badmöbelserie „Joyce“ ausstellen können, bietet die AR App die Möglichkeit, alle Varianten über ein Tablet, das der Verkäufer dem Endkunden in die Hand gibt, anhand einer ausgestellten Badfläche durchzuspielen. Der Kunde beschäftigt sich auf eine ganz neue Art und Weise mit dem Produkt und lernt es in allen Facetten kennen, ohne dass es real vorhanden wäre. Das schafft einen großen Mehrwert im Beratungsgespräch. Gestärkt von der durchweg positiven Resonanz der ersten AR-App für Händler, wird Villeroy & Boch weitere AR-Entwicklungen vorantreiben und für andere Zielgruppen, zum Beispiel Architekten, komplexe Produkte und Funktionalitäten demonstrieren.
Viele weitere Beispiele zeigten, dass Augmented Reality wirklich den Verkauf ankurbeln und entscheidend zum Kaufabschluss beisteuern kann. Insbesondere bieten Produkte, die eine visuelle Vorstellungskraft vom Kunden erfordern, deren Kauf stark emotional beeinflusst (wie zum Beispiel bei Autos) und/oder komplexe Ausstattungen und Funktionalitäten aufweisen, viel Potential für sinnvolle und nutzenstiftende AR-Anwendungen.
Mit Augmented Reality Städte entdecken, Wege finden und und und…
Trotz der großen Medienaufmerksamkeit, die die Vorstellung der AR-fähigen Google Glass begleitet hat, stellt sich für die meisten Deutschen immer noch die Frage: Was bringt mir diese Technik für einen Nutzen im Alltag? Hier sind uns die technikbegeisterten Japaner in der Anwendung schon einen Schritt voraus. Sie verwenden AR-Lösungen bereits selbstverständlich auf ihrem Smartphone. Dafür steht die in Cannes mit einem Löwen ausgezeichnete App „Penguin Navi“ aus Tokio. Die App führt Besucher zu dem von der U-Bahn weiter entfernten Aquarium. Aber nicht etwa mit neutralen Pfeilen, die über die App in die Kameraansicht des Gehwegs eingeblendet werden, sondern über munter wackelnd marschierende Pinguine, die dem Besucher voraus laufen. Mit den Pinguinen kommt neben dem Mehrwert noch der Spaßfaktor ins Spiel. Die App erhielt deswegen überregionales, begeistertes Presseecho.
Schon 2009 gab es ein stark beachtetes AR-Projekt in Basel: LifeClipper2 zeigte Anwendungsmöglichkeiten für den Tourismus-Bereich auf. Allerdings sind die dafür benötigten Geräte im Vergleich zu Smartphones groß und haben ein gewöhnungsbedürftiges Erscheinungsbild. Um in der Baseler Innenstadt auf den Spuren der Kelten wandeln zu können, benötigte man immerhin ein rucksackartiges Gerät, aus dem eine große Antenne herausragt. Wer sein Schritttempo verlangsamt oder stehen bleibt, bekam keltische Hütten in das Sichtfeld eingeblendet.
Christine Perey erläuterte in ihrem Workshop und dem gemeinsam mit Graziano Terenzi verfassten White Paper dieses und etliche andere durchgeführte und geplante AR-Projekte im Stadt(planungs)bereich. Für die Wegeführung bieten sich AR-Anwendungen an – und zwar nicht nur im öffentlichen, städtischen Raum, sondern auch in geschlossenen Bereichen von Ausstellungen. 2013 nutzte die Mobile Asia Expo eine Augmented-Reality-Expo-Führung. Im öffentlichen Bereich bietet das Museum of London die kostenlose App StreetMuseum an, mit der sich ein Spaziergänger beim Stadtbummel historische Stadtansichten über das den vom Smartphone angezeigte Kamerabild projizieren kann.
Perey forderte Workshop-Besucher auf, über AR-Projekte zu berichten und sie nach dem Workshop live zu zeigen. Besonders beeindruckt hat der touristische Stadtplan von Florenz, den Giovanni Landi hier vorführte: Wenn man mit der App Kartenausschnitte fokussiert, sieht man statt der Karte 3D-Modelle der Sehenswürdigkeiten. Zwar bietet Google Maps auch schon Straßenansichten, allerdings nicht in dieser datenreduzierten Form.
Viele Künstler setzen sich schon seit einiger Zeit mit AR auseinander. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist der irische Illustrator Ian O’Shea, der auf der insideAR München-Zeichnungen im Visitenkartenformat ausstellte. Scannt man das Zeichnungsmotiv des wartenden Menschen mit erhobenen Köpfen und der Sprechblase „Das ist sehr schön“, dann baut sich auf dem Smartphone darüber eine neue Zeichnung auf: das neue Rathaus mit dem Glockenspiel.
Auch in Wissenschaft und Bildung wurden schon einige AR-Apps eingesetzt. Die Universität von Manchester möchte während der „National Science und Engineering Week“ Schüler für ein Ingenieurs- oder naturwissenschaftliches Studium begeistern. Anhand der UKMap AR App konnten sie vergangenen März spielerisch Geoinformationen erfassen. Im August diesen Jahres wurde ebenfalls in Manchester eine App für einen dreistündigen „geologischen Spaziergang“ („Discover Geology“ Field Trip) vorgestellt. Man erfährt damit mehr über die geologische Geschichte des Hope Valley, über Ölvorkommen und Mineralien. Allerdings beansprucht auch diese App die Stromversorgung erheblich. Die Akkulaufzeit endet vor dem Spaziergang.
Viele der vorgestellten Apps setzen AR zur spielerischen Umwelterfahrung ein. Zukünftig ist auch in hochsensiblen Bereichen wie der Überwachung des Flughafens durch Sicherheitsleute ist der AR-Einsatz denkbar. Für diesen Einsatz ist eine Datenbrille angedacht, die dem Nutzer über eine App einblendet, welche Personen riskantes Gepäck mit sich führen und welche Personen bereits überprüft wurden.
Fazit – „Macht Euch auf die spannende Reise mit Augmented Reality“!
Dieser Appell an die Besucher der insideAR, die noch kaum Kontakt mit der neuen Technologie hatten, war in vielen Vorträgen zu vernehmen. Mit dem Zusatz „Nutzt die Gunst der frühen Stunden“. Larissa Laternser vom Dosenhersteller Ball Packaging Europe entwickelte schon einige interaktive Verpackungen. Sie ist somit beinahe „ein alter Hase“ im Bereich Mobile AR und bringt den Erfolg von mobilen AR-Apps in den drei „C’s“ – Content, Context und Communication – zusammen. Die Hürde, sich eine AR-App herunterzuladen, sei enorm, deswegen müsse der angebotene Inhalt ein absolutes „Must-have“ für die Zielgruppe sein. Das intensive Kennenlernen der Wünsche und Bedürfnisse der Zielpersonen und daraus einen spannenden und nützlichen Content zu schaffen, ist der Schlüssel. Auch wenn der Nutzen vielleicht „nur“ ein teilbarer Spaßfaktor ist, so muss die Zielgruppe genau damit Spaß haben wollen. Ist der Mehrwert die Auferstehung eines Schuhs in 3D auf einer Printanzeige wie bei der aktuell laufenden Kamapagne der Schuhmarke Tamaris ist der Nutzen noch etwas mager. Aber Tamaris gewinnt sicherlich Imagepunkte, sich als First Mover an AR in der Branche herangetraut zu haben. Vielleicht entwickelt Tamaris im nächsten Schritt die App weiter und zeigt dem Nutzer den nächsten Store an, wo der Schuh noch vorrätig ist und gekauft werden kann. Sicherlich werden sie Erfahrungen sammeln, die für die gesamte Branche hilfreich sind.
Und weil AR noch sehr neu und schwer verständlich für Verbraucher ist, die es noch nicht ausprobiert haben, ist die Kommunikation rund um die Apps besonders wichtig. Klare Beschreibungen, Bilder, Videos und auch menschliche „Vorführer“ sind in dem noch frühen Stadium von AR ein entscheidender Erfolgsfaktor.
Autorinnen dieses Beitrags sind Web Developer Barbara Kaiser und Kommunikationsberaterin Miriam Korth. Vielen Dank an die beiden, dass sie die insideAR für die DMW besucht haben und ihre Eindrücke hier mit uns teilen.
Fotocredits: B. Kaiser, M. Korth