Twitter hat einen entscheidenden Vorteil: Man hat 140 Zeichen, um sich mitzuteilen. Not more. Es gilt das Gesetz der Kürze. Um zu beschreiben, welches Spektrum an Themen sich am ersten Tag der re:publica 2014 in der STATION Berlin aufgetan hat, braucht es gefühlt 14.000. Der Versuch einer Zusammenfassung…
Into the wild, das Motto der diesjährigen re:publica, ruft in mir Bilder von Wildnis, Freiheit und Unabhängigkeit hervor (und einen sehr guten Soundtrack von Eddie Vedder). Übertragen auf die digitalen Themen, die drei Tage lang in internationalen Sessions, Workshops und Lightning Talks präsentiert und diskutiert werden, steht es für die Freiheit der Daten, digitalen Identitätsschutz, Demokratie, Autonomie, dezentrale Netzwerke und global movements.
Lokale Freiheit: Der Journalismus der „Kleinen“
Für mich beginnt der Tag jedoch nicht mit dem großen Ganzen, sondern mit dem Kleinen, dem Lokalpolitischen: „Into the Kiez: Gefahrengebiet Lokaljournalismus„. Ole Reißmann spricht mit vier Autorinnen von Städteblogs über journalistische Herausforderungen und Daseinsverpflichtungen der Online-Medien, die einen wichtigen Gegenpol zu den großen Medienmarken wie dem Hamburger Abendblatt oder der Berliner Morgenpost bilden. Der spezielle Blickwinkel, mit dem Isabella David (Chefredakteurin von Mittendrin, dem Nachrichtenmagazin für Hamburg-Mitte), Annika Stenzel (Chefin vom Dienst bei der taz nord), Natalie Tenberg (Mitgründerin von Florakiez, freie Journalistin und Autorin) und Juliane Wiedemeier (Gründungsredakteurin der Prenzlauer Berg Nachrichten und freie Journalistin) über bezirks- und stadtpolitische Themen berichten, ist „nah dran an den Leuten“ und deckt keine Gesamtperspektive einer Stadt ab. Gerade das möchten sie auch nicht. Sie berichten über kleinteilige Themen, für die die „Großen“ keine Zeit oder Lust haben, die aber für die Menschen, die es betrifft, von großem Interesse sind. Da muss man älteren Lesern schon einmal erklären, wie man den Blogartikel gut ausdrucken kann, um ihn im Gemeindehaus auszuhängen. Als Drecksarbeit bezeichnen sie ihren Job aber keinesfalls. Eher als Start-Up-Kultur. Von unten heraus, mit Idealismus und Leidenschaft betrieben.
Aber wer zahlt eigentlich für lokale Themen in Blogs? Genau das ist das Problem. Kooperationen mit Medien wie der TAZ oder ZEIT Online ermöglichen eine Zweitverwertung von Themen; ab und an sogar Auftragsarbeiten, gegen Bezahlung. Aber „wer Geld verdienen will, geht nicht in den Journalismus“, so Wiedemeier. Natalie Tenberg bringt es auf den Punkt: „Wir geben nichts aus. Und wir nehmen nichts ein. Es wäre schön, nur davon leben zu können. Aber wer kann das schon?“ Und leider hat sie Recht. Kiezjournalismus hat eine hohe lokalpolitische Relevanz, aber keine finanzielle Unendlichkeit. Autoren müssen bezahlt werden. Selbst, wenn nicht jeden Tag ein Skandal aufgedeckt oder ein Politiker gestürzt wird. Er erreicht junge Leute, die keine Zeitung mehr lesen und sich dennoch für ihr Viertel, ihre Straße und ihren Kiez engagieren wollen. Und wenn die Geschichten am Ende ihren Weg vom Netz zurück zu Print finden, dann ist eine wichtige Brücke geschlagen.
Die Freiheit der Daten: WikiLeaks und die NSA-Enthüllungen
Investigativ und gerade zu politisch brisant geht es im Talk „WikiLeaks, Manning and Snowden: From USA to USB“ von WikiLeaksjournalistin Sarah Harrison und Alexa O’Brien weiter. Der Fall Snowden und die Enthüllungen über die Observierung durch die NSA hat große Wellen geschlagen. Harrison und O’Brien diskutieren über Moral und Ethik und über legale und politische Hintergründe des Prozesses gegen die US-amerikanische IT-Spezialistin Chelsea Manning, die im Mai 2010 geheime Dokumente der US-Streitkräfte an WikiLeaks zugespielt haben soll. Ihre Verurteilung: 35 Jahre Freiheitsstrafe. Es stellt sich die Frage: Warum werden Menschen, die die Wahrheit aufdecken verurteilt, während die, die sie verschweigen, weiter regieren? „It’s all about the US dominance. European governments are too afraid to stand up and fight for their rights. It’s about geo political pressure“, so Harrison. Sie selbst wünsche sich mehr Zusammenhalt und Kampfgeist von politischen Führern wie Angela Merkel, die – obwohl selbst betroffen vom Abhörskandal – wenige Monate später wieder auf Kuschelkurs mit Barack Obama geht.
Eine weitere wichtige Frage dreht sich um die Zukunft von WikiLeaks. Harrison, die Snowden bei seiner Flucht aus Hongkong unterstützte, legt Wert darauf, dass es nicht nur um die reine Veröffentlichung von Dokumenten geht. Viel wichtiger sei es, Daten für die Öffentlichkeit nutzbar zu machen, Zusammenhänge herzustellen und kritische Themen nicht einfach nur aufzudecken, sondern sie auch für jedermann einzuordnen, um über illegale Vorgänge zu informieren. Es geht darum, ein historisches Archiv anzulegen, das jederzeit verfügbar sei. „No one should tolerate to be spied on by the government. And the government broke laws to do that. (…) but if I didn’t answer a question while being questioned in a prozess, it may count as committing a crime.“
Die Brisanz der Prozesse rund um Edward Snowden und Julian Assange ist weltweit bekannt. Für Harrison ist das ein klarer Erfolg für WikiLeaks, die mit ihrer Arbeit einen großen Beitrag für die Freiheit der Daten und den Schutz der Privatsphäre von Personen leistet. Aber sie fordert mehr. Mehr Aufstand von den Leuten, um für ihre Rechte zu kämpfen in Zeiten, in denen „die NSA-Überwachung eine besorgniserregende Tiefe entwickelt hat“. Mehr Unterstützung der Länder, um Snowden Asyl anzubieten. Und mehr Mut dazu, die Entscheidungen der eigenen Regierung anzuzweifeln und zu hinterfragen. WikiLeaks selbst sei nur die Plattform, um Dinge voranzutreiben, „…to finally get justice. We didn’t harm anybody by putting out documents to the internet. It’s the governments who killed and observed thousands of people. Not us. But someone has to stand up and let people know about it. That’s us.“ Ein mutiger Vortrag von einer mutigen Frau, die meinen vollen Respekt verdient hat.
Digitale Freiheit: David Hasselhoff und sein Manifest of Freedom
Der nächste Sprung in die Wildnis ist ein Sprung in die peinliche Vergangenheit meiner Teenagerzeit: David Hasselhoff. Der Mann, dessen Song „Looking for Freedom“ 1989 unwillentlich zum Titelsong der Wiedervereinigung wurde. Mein erster Gedanke „Was zum Teufel will der hier?“ – und das bestätigt sich in jeder Sekunde seines Vortrags „Looking For Freedom“ in der rappelvollen Stage 1. Jeder möchte The Hoff sehen. Ihn singen hören. In Knight Rider Erinnerungen schwelgen. Eigentlich soll er mit Mikko Hypponen (Chief Research Officer bei F-Secure) sein „Digital Freedom Manifesto“ präsentieren. Ein Manifest für die Freiheit der Daten und für den Schutz der Privatsphäre.
Aber während Mikka sich in der Beschreibung der vier wichtigen Grundpfeiler des Schriftstücks (Mass Surveillance, Digital Persecution, Digital Colonization und Right of Access, Movement and Speech), das bis Ende Juni crowdsource-basiert entstehen soll, verliert, starrt Hasselhoff verloren in der Gegend herum, wirkt schrecklich eindimensional, redet über sein berüchtigtes „Burgervideo“ (für das einem doch ein bisschen leid tun kann) und kennt nicht einmal die Creative Commons, unter deren Lizenz das Manifest erscheinen soll. Wenn es nach mir geht, hätte er beim Singen bleiben sollen. Aber selbst das will er nicht, obwohl alle es lautstark fordern. Eine kurze Zeile gibt er dann doch zum Besten. Das war’s. Aber braucht die re:publica das? Celebrities, um für ein sehr relevantes und wichtiges Thema zu werben? Gut, es ist amüsant (der Teenie in mir grinst), aber inhaltlich? Na guckt’s euch selber an… (Videostream).
Persönliche Freiheit: Unplug yourself (zumindest manchmal)
Zum Glück endet der Tag mit einem wahren Herzensthema – dem Aussteigen. Ninia Binias, Kathrin Kaufmann und Johanna Emge bringen mich wieder auf den Boden und raus aus dem „Jetlag Overload“, der nach einem Tag voller Gespräche über Digitales und das Netz herrlich viele „Offline“-Themen enthält. Man darf es nicht falsch verstehen: Das Digitale ist wichtig. Denn ein wirkliches „Offline sein“ gibt es nicht mehr. Es ist wie mit Strom. Der ist auch immer da, selbst, wenn man ihn mal nicht braucht. Trotzdem leiden viele unter ihrem Job, jeder sechste hat bereits im Kopf gekündigt. Warum? Stress, psychische Belastung, Kommunikationsoverflow, Technostress, erhöhter Leistungsdruck. Es gibt viele Gründe. Bei der Frage, wie viele im Raum immer länger online sind als sie vor hatten, heben knapp 90% die Hand. Nach diesem Selbsttest (er ist von 1996! Ich bin baff!) sind wir also alle „schwerst internetabhängig“. Oha.
Eine Lösung scheint auf der Hand zu liegen: einfach mal den Stecker ziehen. Aber hilft das wirklich? Nope. Downshift reicht bereits. Einfach mal nicht alle zwei Minuten auf’s Handy gucken. Es könnte ja was wichtiges sein. Es gibt viele weitere Ideen: ein Sabbatjahr. Digital Detox. Unplug yourself. Wie oft hab ich nicht schon darüber nachgedacht. Jeder sollte sich dabei die Frage stellen, was ihn glücklich macht. Und ob abschalten wirklich hilft. Macht zum Beispiel ein Umzug in die Stadt glücklicher, weil man sich auf dem Land abgeschieden fühlt und sich daher Ersatzbefriedigungen im Internet holt? Oder vergraben wir uns in der Stadt hinter Bildschirmen, weil unsere Stadt einfach nicht freundlich und offen genug gestaltet ist, um kleine Auszeiten oder Naturerlebnisse zu erlauben?
Wenn 100.000 Deutsche pro Jahr ins Ausland wandern, um dort glücklicher zu werden und wenn ein ehemaliger Manager eines Mineralölkonzerns zum Taxifahrer in Hamburg wird (aus reiner Freude), dann kann ich das doch sicher auch. Gut, mir fehlen die Millionen auf dem Konto. Aber: Der Versuch im Kopf ist schon ein erster Schritt. Wie möchte ich leben? Wie wichtig ist die digitale Identität und die digitale Freiheit? Ich halte es dabei gerne wie Christopher McCandless. Into the wild.
https://vimeo.com/71862150