Als der Scoopcamp-Tag schon fast zu Ende ist, hallt ein Appell durch den Saal des Kehrwieder-Theaters: „Ich würde mir wünschen, dass wir aufhören, über die Zukunft des Journalismus zu reden. Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussieht. Keiner weiß das. Aber es gibt die Gegenwart, in der wir Dinge ausprobieren können.“ Die Frau, die das sagt, sitzt auf der Bühne und ist eigentlich sehr müde. Denn Jessica Wagener war in der Nacht zuvor kaum zum Schlafen gekommen: Um 4.30 Uhr erst war die Seite himate.de an den Start gegangen, deren Chefin sie seit einem Monat ist.
Doch von Müdigkeit ist nichts zu spüren, als sie neben Moderatorin Jenni Schwanenberg und Johannes Vogel, Geschäftsführer Süddeutsche Zeitung Digital, auf dem Abschlusspanel des siebten Scoopcamps in Hamburg sitzt. Sie ist in ihrem Element, als sie auf dem Abschlusspanel von himate.de spricht und wen sie damit erreichen will: Denn anders als bento.de oder ze.tt richtet sich die Website, die zum Südkurier-Verlag gehört, nicht ausschließlich an Millennials. Sie hätten thematische Mikrozielgruppen identifiziert, die sie erreichen wollten, erklärt Jessica Wagener. „Es geht nicht darum, ob jemand 18 oder 50 ist – wenn der sich für ein Thema interessiert, will der das exzellent aufbereitet haben.“ Und man müsse eben die richtigen Wege finden, die Zielgruppen zu erreichen – in ihrem Fall mit einem sehr kleinen Team und ohne ein großes Medienhaus im Rücken. Aber dass das funktionieren kann, daran hat Wagener keine Zweifel: „Der Gamechanger ist keine große Redaktion, sondern die zielgruppenspezifische Distribution von guten Inhalten.“ Einfach mal zu machen, in der Gegenwart, Dinge auszuprobieren – dazu gehört Mut. Mut, den Jessica Wagener bei ihrer bisherigen Arbeit für große Verlage zu oft vermisst hat.
Ein paar Stunden zuvor stand eine Journalistin auf der Scoopcamp-Bühne, die sich in den vergangenen Jahren auch mehr Mut von ihrem Arbeitgeber gewünscht hätte: den Mut, Ereignisse nachhaltig zu verfolgen. Natalia Antelava, seit vielen Jahren Korrespondentin der BBC in Krisengebieten, erzählt von der Kurzatmigkeit der Medienhäuser: Viel zu oft habe sie es erlebt, dass selbst bei sehr großen Naturkatastrophen wie dem Erdbeben in Nepal im Frühjahr 2015 die Aufmerksamkeit der Medien nach kurzer Zeit wieder woanders war. Die Journalisten wurden abgezogen und zu einer anderen Breaking News geschickt. Dabei könne solch ein Ereignis eine Gesellschaft verändern – die Journalisten aber könnten die Zusammenhänge nicht nachvollziehen, wenn sie immer nur von einer Krise zur nächsten springen müssten. Doch Natalia Antelava hat den Mut, dagegen etwas zu tun: Gemeinsam mit zwei anderen erfahrenen Auslandskorrespondenten hat sie Coda gegründet.
Mit Coda will sie das tun, was sich andere nicht mehr trauen: sechs bis zwölf Monate lang an einem einzigen Thema bleiben. „Für jede große Geschichte, um die wir uns kümmern wollen, werden wir ein festes Journalisten-Team zusammenstellen und es hinschicken – und das wird nicht einfach abgezogen, wenn irgendwo anders etwas passiert.“ Doch es soll nicht um ein einziges riesiges Stück gehen, das am Ende der Zeit veröffentlicht wird. Die Geschichten werden im gesamten Zeitraum in einzelnen Happen veröffentlicht, mal ein langer Text, mal auch nur ein Absatz, Fotos, Videos, Interviews, Dokumentationen, auf einer eigens dafür konzipierten Plattform. Natalia Antelava und ihre Mitgründer wollen den Dreh entdeckt haben, mit dem sie die Leser immer wieder für neue Aspekte ein- und desselben Themas interessieren: Fokussierung auf Menschen, deren Geschichte über Monate im Mittelpunkt steht. „Baue eine Beziehung zu den Protagonisten auf, erzähl eine verdammt gute Geschichte – und jeder wird zuhören“, erklärt sie. Im anschließenden Workshop dann die bange Frage: Und wer soll das bezahlen? Die Antwort bleibt etwas vage: Es gebe verschiedene Finanzierungswege, die das Team nutzen wolle. Die erste Geschichte soll mit Hilfe einer Stiftung finanziert werden, zusätzlich werde man ein Crowdfunding-Projekt daraus machen. Außerdem ist eine Zusammenarbeit mit redaktionellen Partnern geplant, zum Beispiel der Fotoagentur Magnum und Russischen Dienst der BBC. Auch über Werbung und das Lizenzieren ihrer Plattform denke man nach. Das Entscheidende: Themen zu finden, die groß genug sind, um sie dauerhaft zu begleiten. Natalia Antelava vertraut auf ihre Erfahrung – und wagt etwas Neues. Obwohl sie weiß: „Es ist ein bisschen wie ein Glücksspiel“. Und wie war das bei einem Glücksspiel nochmal? Nur wer es ausprobiert, gewinnt.
Jessica Wagener auf Twitter: @pseudonymphe
Ein Interview mit Jessica Wagener über himate.de und ihre Arbeit gibt es hier.
Natalia Antelava auf Twitter: @antelava
Einen ausführlichen Artikel über Coda gibt es hier.
Stimmen der #DMW über das siebte Scoopcamp in Hamburg
CHRISTIANE BRANDES-VISBECK
Was hast Du mitgenommen?
Scoopcamp und Goldener Oktober sind bei mir fest im Jahresablauf verankert. Dieses Jahr haben mich die unkomplizierte Moderation von Jenni Schwanenberg, der Vortrag von Thomas Wallner über die neusten Entwicklungen von Virtual Reality und der passende Workshop dazu mit Linda Rath-Wiggins und Birgit Gray von der Deutschen Welle und der unterhaltsame Vortrag über die Sexiest Paywall ever von Blendle-Gründer Marten Blankensteijn besonders angesprochen. Mein Hidden Champion aber ist die Diskussion mit ARD-aktuell-Chef Kai Gniffke und der WDR-Europa-Redakteurin Schiwa Schleie über die Rolle der Medien in der Flüchtlingsdebatte. Der „Talk“ entwickelte sich einem berührenden Gespräch über „Haltung“ in den Medien, die Folgen von Fehlern in der Berichterstattung und offenbarte eine gewisse Ratlosigkeit beim Umgang mit unausgesprochnen Ängsten in der Bevölkerung. Danke, liebes Scoopcamp-Team, für einen bewegenden Tag.
Die spannendste Person des Tages war …
… Carline Mohr aka @Mohrenpost und Leitung Social Media bei bild.de im #RefugeesWelcome-Talk.
Der Tweet des Tages:
Passend zum Thema „Stimmung in Deutschland“:
Erkenntnis vom #scoop15: Redaktionen entwickeln zu oft auf Basis von Journalisten-Annahmen, gehen zu wenig raus und reden mit ihren Kunden.
— Jens Twiehaus (@JensTwiehaus) 1. Oktober 2015
JULIA KOTTKAMP
Was hast Du mitgenommen?
Vom Scoopcamp habe ich wortwörtlich die neue App Blendle mitgenommen. Bislang habe ich dort nur gute Artikel gelesen und allein in zwei Tagen schon 12,52 ausgegeben.
Die spannendste Person des Tages war …
ARD-aktuell-Chef Kai Gniffke bei der Flüchtlingsdebatte. Er hat ruhig und sachlich diskutiert und auch an mancher Stelle Unsicherheit mit gewissen Beiträgen thematisiert. Ich empfand das als sympathisch und professionell gleichzeitig.
Der Tweet des Tages:
Starke Ideen für die Millennials beim Scoophack – hier machen sich viele Medienmacher gerade Notizen ? #scoop15 pic.twitter.com/vnCMaPCCwc — Jakob Koch (@jkbkch) 1. Oktober 2015
STEFANIE MICHELS
Was hast Du mitgenommen?
Die aktuelle Ausgabe vom „journalist“ und eine Brezel. 😉 Im Ernst: Ich bin gerne auf dem Scoopcamp – dieses Jahr war ich das fünfte Mal dabei. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder aktuelle Trends im Journalismus aufgezeigt, zum Beispiel Daten-, Drohnen-, und Roboterjournalismus. Spannend in diesem Jahr waren für mich unter anderem die Entwicklungen von Virtual Reality als eins der großen Themen und 360°-Videos und deren Einsatz im Journalismus sowie die tollen Ideen aus dem Hackathon.
Die spannendste Person des Tages war …
… Marten Blankesteijn, der sehr sympathisch vorgestellt hat, wie die Idee zu Blendle kam und wie er damit den Journalismus verbessern möchte, und natürlich Jenni Schwanenberg mit ihrer tollen Moderation. Deswegen … … gehört diese „Ansage“ von ihr zu meinen Lieblingstweets des Tages:
Aussage des Tages von @JSchwanenberg: „Ist die Frage noch wichtig? Es ist 18:00 – es könnte jetzt Bier geben!“ #scoop15 — Stefan Zürn (@StefanZuern) October 1, 2015