Geschichte wird gemacht. Und meist spiegelt sich in der Geschichtsschreibung die „Wahrheit“ der sogenannten Sieger:innen wider – marginalisierte Perspektiven werden unterschlagen, abgewertet oder zur Fußnote degradiert. Aktuell trendet #herstory, ob als TV-Serie, Coffee Table Book oder auf Instagram. Für den deutschsprachigen Raum hat sich das Digitale Deutsche Frauenarchiv gegründet, um die vielfältige Frauenbewegungsgeschichte sichtbar zu machen. Mit Cordula Jurczyk, Online-Redakteurin beim Digitalen Deutschen Frauenarchiv, hat Paula Landes vom #DMW Quartier Rhein-Main über feministische Geschichtsschreibung und Digitalisierung gesprochen.
#DMW/PL: Seit 2018 ist das Digitale Deutsche Frauenarchiv online. Wer seid ihr und was macht ihr genau?
Cordula Jurczyk: Das Digitale Deutsche Frauenarchiv, kurz DDF, bringt feministische Geschichte ins Netz. Als interaktives Fachportal bündelt es die über 200-jährige Geschichte der deutschsprachigen Frauen- und Lesbenbewegung. Online und kostenfrei sind Akteur:innen, Debatten und Netzwerke einer der größten sozialen Bewegungen zu entdecken.
Bücher, Zeitschriften, Plakate, Fotos und Tondokumente, originale Briefe und Protokolle: Das DDF zeigt teils unveröffentlichte Materialien aus feministischen Erinnerungseinrichtungen. Hunderttausende Datensätze und über 15.000 Digitalisate sind bereits online direkt einzusehen: vom Tagebuch der Frauenrechtlerin Minna Cauer Ende des 19. Jahrhunderts, über Zeitschriften der 1920er-Jahre bis zu Aufrufen bewegter Frauengruppen der DDR. Das Portal wird fachlich begleitet und wächst kontinuierlich weiter.
Das klingt spannend! Wie kam es denn zum Digitalen Deutschen Frauenarchiv und wie ist es aufgebaut?
Alles begann mit einem Auftrag im Koalitionsvertrag von 2013. In diesem wurde vereinbart, die Materialien zur „Deutschen Frauenbewegung unter besonderer Beachtung der Frauenbewegung in der DDR und der Umbruchzeit 1989/90“, wissenschaftlich aufzuarbeiten und in einem digitalen Archiv zu sichern sowie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Das DDF wurde schließlich von i.d.a., dem Dachverband deutschsprachiger Lesben- / Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen, ins Leben gerufen und wird bis heute von ihm getragen. Seit 2016 fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) den Aufbau – seit 2020 erhalten wir vom BMFSFJ eine institutionelle Förderung.
Grundlage unserer Arbeit sind bis heute die mehr als 30 Einrichtungen des i.d.a.-Dachverbandes. Sie sind es, die mit ihren wertvollen analogen Beständen und über die Digitalisierungsprojekte für die vielfältigen Perspektiven und Inhalte im DDF sorgen. Dafür wurden in den Jahren 2016 bis 2021 bereits 50 Projekte über einen Projektefonds des DDF gefördert und deren Ergebnisse im Portal veröffentlicht.
Warum braucht es ein Digitales Deutsches Frauenarchiv und an wen richtet es sich?
In der offiziellen, dominierenden Geschichtsschreibung haben feministische Perspektiven kaum Raum, diese ist noch sehr männlich geprägt. Akteur:innen und ihre Leistungen sind immer noch an den Rand gedrängt und zu oft unsichtbar gemacht. Damit feministische Geschichten und Zeitdokumente nachhaltig bewahrt und weltweit zugänglich sind, digitalisieren und kontextualisieren wir sie. Deshalb braucht es eine Online-Plattform wie das DDF.
Mit zahlreichen analogen und digitalen Angeboten vermitteln wir hier feministisches Wissen. Essays und Dossiers bieten einen ersten Zugang zu den Materialien. Eine vertiefte Recherche ermöglicht der META-Katalog, die archivübergreifende Datenbank des i.d.a.-Dachverbands. Mit historischer Fachexpertise und innovativer Technologie ist das DDF eine einmalige, spannende und verlässliche Quelle für Bildungs-, Forschungs- und Medienarbeit sowie für alle Interessierten.
Generell ist es uns wichtig, die Geschichte der Lesben- und Frauenbewegung als selbstverständlichen Teil von Demokratiegeschichte zu erzählen. Dafür gehört sie in die Schulbücher und Rahmenpläne, in Medienberichte und auf Podien, in alltägliche Debatten und wissenschaftliche Diskurse. Die Informationen und Ansprechpartner:innen dafür finden sich im DDF.
Das Digitale Deutsche Frauenarchiv visualisiert auch Netzwerke von Akteur:innen. So entsteht eine lebhafte, vielfältige „Szene“. Warum war euch diese Darstellungsform wichtig?
Uns war es wichtig, nicht nur die Themen und Akteur:innen der Lesben- und Frauenbewegungsgeschichte vorzustellen, sondern auch ihre Beziehungen zueinander abzubilden. Die Akteur:innen berufen sich aufeinander, sie sind miteinander verknüpft. Das Akteur:innennetzwerk im DDF macht dies sichtbar und zeigt die Vielzahl der Protagonist:innen auf. Denn es gab eben nicht nur die ‚bekannten‘ Akteur:innen, zum Beispiel Hedwig Dohm, Anita Augspurg oder Helene Lange, sondern die Frauenbewegung wurde und wird von vielen, teils unbekannten Frauen* getragen. Dabei zählen wir auch Vereine, Organisationen und Verbände dazu. Das komplette Netzwerk bildet aktuell circa 1.000 Akteur:innen ab – und wächst stetig weiter.
Netzwerke, wie es auch die Digital Media Women e.V. sind, werden in dieser Darstellung zu einem zentralen Faktor feministischer Geschichte und Gegenwart. Inwiefern prägen sie auch die Arbeit des DDF?
Netzwerkarbeit ist ein zentraler Bestandteil feministischer Zusammenhänge und damit auch unserer täglichen Arbeit. Sehr eng arbeiten wir mit den Einrichtungen des i.d.a.-Dachverbands zusammen, außerdem mit unterschiedlichen Akteur:innen aus Wissenschaft, Forschung, Bildung und Medien, Politik und Kultur.
Dies zeigt sich beispielsweise auch in unserem aktuellen Dossier § 218 und die Frauenbewegung. Akteurinnen – Debatten – Kämpfe. Zu Wort kommen hier neben zahlreichen Zeitzeug:innen auch Autor:innen und Gesprächspartner:innen aus all diesen Bereichen. Im Zentrum stehen auch hier stets die Materialien und Einrichtungen des i.d.a.-Dachverbands, mit dem wir in engem Austausch stehen. Über unterschiedliche Formate wie Interviews, Bilder und auch Videos lässt sich die Lesben- und Frauenbewegung hier abwechslungsreich entdecken.
Wir gestalten über die Online-Plattform hinaus auch analoge Formate wie die Feministische Sommeruni. Auch hier ist feministisches Netzwerken elementar. Wir laden damit ganz konkret zum Austausch zwischen unterschiedlichen Feminismen, Generationen und Akteur:innen ein. Die Kämpfe und Errungenschaften der Frauenbewegungen stehen auf vielen Schultern und brauchen heute wie auch in ihrer Geschichte Allianzen, Kooperationen – und gute Netzwerke.
Vielen Dank für das Gespräch! Weitere Informationen zum Digitalen Deutschen Frauenarchiv gibt es hier sowie auf Twitter, Facebook und Instagram.
P.S.: Dir ist klar geworden, dass Netzwerke von und für Frauen wichtig sind? Dann werde #DMW Fördermitglied! Wir freuen uns, wenn du Fördermitglied unseres Vereins wirst und unsere Arbeit unterstützt. Hier geht’s lang! Vielen Dank auch von den kommenden Generationen, die Dich irgendwann im Geschichtsarchiv finden werden!